von Dr. Sven Reißig
am 3.6.2022
Endlich Urlaub wenige Minuten vom Nordseestrand entfernt! Entspannen, Lesen, Laufen! Und auch mal in Ruhe im Internet surfen.
Was macht denn die Laufszene in Dänemark so? Vielleicht gibt es ja einen kleinen Lauf hier in der Nähe, den man sich mal ansehen kann. Leider ist im Süden Jütlands nicht so viel los.
Auf den Statistikseiten der DUV (Deutsche Ultramarathon Vereinigung e.V.) finde ich den „Viborg 100 km“ der am nächsten Wochenende stattfinden soll. Auf der Seite ist gleich eine kleine Statistik über die Siegerzeiten und Teilnehmerzahlen in den letzten Jahren. Mit 36 Teilnehmern 2021 eine überschaubare Veranstaltung. Da findet sich auch gleich der Link auf die Webseite des Laufes. Super! Auf der Seite befindet sich auch eine Version in deutsch – das macht es einfacher. Klasse! Es gibt auch einen offenen 50 km-Lauf. 100 km wären mir etwas zu heftig. OK – 5.700 m rund um den Søndersø. 8,75 Runden für die 50 km-Strecke, 17,5 Runden für die 100 km. Schauen wir mal nach der Anmeldung. Überraschung! Ich lande auf den Anmeldeseiten von MyRaceResult und die Anmeldung ist noch bis zum 01.06.2022 möglich.
Oh! Da steht „DM 100 km Senior og Masters“ – also die dänischen Meisterschaften im 100 km-Lauf? Die Weltmeisterschaften im 100 km-Lauf finden ja dieses Jahr im August in Bernau bei Berlin statt. Ob hier ein Qualifikationsrennen für die WM stattfindet?
Hui, jetzt habe ich etwas Bammel. Ich kenne nicht viele dänische Läufer und Läuferinnen – aber die ich kenne, sind verdammt schnell! Zwar bin ich es gewohnt, irgendwo am Ende des
Teilnehmerfeldes zu laufen, aber vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie schon das Ziel abgebaut wird, während ich auf die letzte Runde gehe. Also schnell nochmal auf die Statistik-Seiten der DUV und auf die 50 km-Zeiten der letzten Läufe geschaut. OK – da sind in den letzten Jahren auch einige Veteranen meines Kalibers dabei gewesen. Nochmal schnell ein paar Namen aus der Startliste für die 50km eingegeben. Viele Ersttäter – aber auch einige mit Zeiten in meinem Bereich.
Gut! Aber wo liegt Viborg eigentlich? Naja – so ziemlich in der Mitte von Jütland. Google-Maps sagt 130 km, Fahrtzeit 1:50 h von unserem Ferienhaus entfernt. Der Lauf startet 8 Uhr, ab 7 Uhr ist Startnummernausgabe, 7:35 Uhr fährt der Bus zum Startpunkt. Puh – d.h. gegen 4:30 Uhr aufstehen und gegen 5 Uhr losfahren. Nach einem kurzen klärenden Gespräch im Kreise der Familie steht fest – ich fahre hin, aber alleine. 😉
Die Anmeldung funktioniert reibungslos. Ich hatte die Befürchtung, dass die Bezahlung wieder mit dem in Dänemark üblichen Mobilpay erfolgen soll, was ich als Deutscher leider nicht kann. Aber kein Problem – Kreditkarte und erledigt. Minuten später habe ich meine Bestätigungsmail und stehe mit einem kleinen Deutschlandfähnchen in der Startliste. Als Einziger „Nichtdäne“.
Auf Wettkampf war ich eigentlich nicht eingerichtet. Laufsachen sind zwar dabei, aber meine üblichen Utensilien wie Startnummernband, Glückswürfel, Salztabletten, Fußcreme usw. sind zuhause geblieben. Einen großen Beutel für meine Sachen habe ich, weil ich meine Schuhe in einem gelben Rennsteigbeutel mitgenommen hatte.
Der dänische Wetterbericht sagt früh 9°C bei Wolken und ab Mittag 20°C bei Sonnenschein voraus. Wie geplant ist 4:30 Uhr wecken und nach einem ausgiebigen Frühstück geht es auf die Fahrt nach Viborg. Kurz vor 7:00 Uhr bin ich da, finde eine Parkplatz und gehe zur Anmeldung.
Hier wird gerade alles aufgebaut. Die Tische für die Eigenverpflegung stehen schon bereit. Die Zeitmessung wird aufgebaut. Läuferinnen und Läufer begrüßen sich herzlich – man kennt sich. Ich kenne hier keinen.
„Hi, ich bin der Sven.“- „Dalgaard?“ – „Nej.“ – „Ah – der Deutsche“ – „Ja.“
Bjarni Rom-Jensen, das „Ein-Mann-Organsisations-Kommitee“, wie ich später erfahre, entschuldigt sich, weil er nicht gut deutsch spricht. Auf jeden Fall spricht er besser deutsch als ich dänisch. Er gibt mir meine Startnummer, den Chip und ein bisschen Süßkram. Er zeigt mir alles und weist auf die Tische für die Eigenversorgung – ich soll mir einen aussuchen. Naja – meine Eigenverpflegung besteht aus zwei Snickers und ein paar Salztütchen. 😉 Ich packe meinen Beutel einfach mit in das Organisationszelt, falls es doch noch regnen sollte.
Der Chip ist Cool! Sieht aus wie eine elektronische Fußfessel in rot. Hatte ich bis jetzt auch noch nicht. Ähnlich den Chips von den Triathleten mit einem Moosgummiklettband am Fuß zu befestigen.
Es geht ziemlich entspannt zu – keine Hektik. Man merkt, dass hier Routine drin ist. Es folgt die Einweisung durch Bjarni. Natürlich in Landessprache. Ich kriege nicht alles mit, aber was für mich interessant ist, dass verstehe ich. Zum 100 km-Start fährt der Bus, zum 50 km-Start wird gelaufen. Aha – damit klärt sich, wie das mit dem Bus und den beiden Startorten ist. Es gibt 2 Verpflegungsstellen. Ich verstehe es gibt Wasser, Cola, Energydrink, Schokolade, Gummibärchen und noch mehr was ich nicht verstehe. Das reicht mir! An der zweiten Verpflegungsstelle gibt es nur Wasser. 100 m nach den Verpflegungsstellen stehen Tonnen für den Pfand? Verstehe ich erst mal nicht. Aber OK. Kopfhörer sind erlaubt. Vielleicht ganz interessant für mich, weil ich hier bestimmt nicht viele zum Schwatzen finde. 😉
Nach der Einweisung kommt Bjarni zu mir und will mir nochmal alles erklären. Für mich ist aber alles fein. Während ich da stehe, mir noch ein zweites Shirt anziehe – es ist ziemlich kalt – kommt ein Mann auf mich zu und fragt, ob ich aus Deutschland bin – falls es irgendetwas gibt, er ist als Betreuer hier und ist bei den Verpflegungstischen. Hurra – ich bin adoptiert. 😉 Eine junge Läuferin
(mit dem dänischen Nationaltrikot?) kommt vorbei und meint, sie spricht auch deutsch – falls noch etwas ist. Aber es ist nix.
Wir laufen zum Start und schon werde ich gefragt, wo genau ich herkomme, was für Läufe man machen könnte. Ich bin angekommen.
Pünktlich um 8 Uhr geht es über die Startmatte. Das übersichtliche Feld sortiert sich schnell und im Rennverlauf wird sich daran auch nicht mehr viel ändern. Jeder läuft sein Tempo. Ich achte erst mal darauf, dass ich immer jemanden vor mir sehen kann – damit ich mich nicht verlaufe. Aber es geht immer am See entlang und überall stehen die kleinen Veranstaltungsschilder.
Relativ schnell kommen wir an die zweite Verpflegungsstelle und jetzt klärt sich das mit dem Pfand. Es gibt Wasser in kleinen 300 ml Pfandflaschen. Auf den Flaschen ist hinten eine große 100 aufgedruckt und ich bin schon am überlegen, ob die extra für den Lauf bedruckt wurden. Ne! Die Flaschen sind zu 100 % aus Recycling-Material. Und deswegen auch die Tonnen für die Pfandflaschen.
Wie ich später erfahre, steht an dieser Verpflegungsstelle Jesper Kenn Olsen, der Trainer des
dänische Ultralauf-Nationalteams. Falls dem ein oder anderen der Name etwas zu sagen scheint – ja
der Jesper Kenn Olsen vom World Run! Zweimal hat er schon in einem Lauf die Welt umrundet!
Die erste 3/4-Runde ist rum und ich komme in den Zielbereich. Ein Becherchen Cola und dazu ein Stückchen „chokolade“ (mit einem „bløde D“, wie mein alter Dänisch-Lehrer immer sagte, dass als „L“ gesprochen wird) und es geht weiter. Ich habe mich auf einen Schnitt von 5:50 min/km eingepegelt, Puls ist OK – ich laufe mal so weiter.
Bei etwa Kilometer 18 werde ich das erste Mal überrundet. Allerdings nicht von einem 100 km-Läufer, der ja nur eine 3/4-Runde aufholen musste, sondern von der jungen Frau im Dänemark-Trikot, die mit mir zusammen am 50 km-Start stand. Ähm – d.h. sie hat schon ca. 24 km auf der Uhr – ich rechne eine Weile im Kopf. (Das Rechnen mit Stunden, Minuten und Sekunden geht irgendwie langsam beim Laufen.) Das müsste eine Zielzeit von deutlich unter 3:45 sein. Holla! Für eine Masters-Athletin (mir gefällt der Begriff deutlich besser als „Senioren“ oder „Altersklassen-Athleten“ 😉 ) eine Top-Zeit. Bei dem Tempo wird sie mich später ein zweites Mal überrunden.
Die Sonne kommt raus und ab 10 Uhr wird es warm. Boxenstop. Zweites Shirt ausziehen,
Sonnenspray verteilen (hätte ich eigentlich schon vor dem Lauf machen können!). Ich ernte ein irritiertes Lächeln, als ich meinen Beutel etwas entnervt auskippe, um meine Mütze zu finden. Jetzt macht sich auch der Vorteil der kleinen Wasserflaschen bemerkbar, die man mit auf die Runde nehmen kann. Ich freue mich schon auf die Laufpassage auf der anderen Seite des Sees, die auf einem schattigen Weg am Ufer verläuft.
So geht es Runde um Runde und mir wird nicht langweilig. Der Rundweg füllt sich mit Fußgängern und auch Läufern. „Godt Løb!” wird mir immer wieder zugerufen.
Da sind Kühe mit jungen Kälbchen. Leute die vor den Kühen sitzen und Kuhköpfe in ihr
Skizzenbuch zeichnen. Und da fliegt eine Untertasse vor mir über den Weg? Eine Frisby-Scheibe! Auf der nächsten Runde schaue ich mal genauer hin – an der Strecke liegt ein DiscGolf Park. Witzig – mit Frisby in aufgestellte Körbe einlochen.
Mir wird irgendwann die letzte Runde angesagt. Da ich die 5 h-Grenze wohl nur noch schwer schaffen werde, gehe ich die letzte Runde als Ehrenrunde an, nehme Tempo raus, gönne mir einen ganzen(!) Snickers, packe mir die Kopfhörer auf die Ohren und genieße!
Zieleinlauf! Fotos, Applaus, Medaille, Gratulationen. Man hatte noch kurz gewartet, bis ich im Ziel war, bevor die Siegerehrung der Frauen über die 50 km durchgeführt wurde.
Ich verstehe 3:38 h als Siegerzeit und krame erst mal das Handy raus, um auf den Seiten von MyRaceResult die Live-Ergebnisse anzuschauen. Yup – richtig verstanden: 3:38:25 h! (Ich stehe da mit 5:09:04 h drin). Noch mal schnell „Helle Blak Petersen“ in die DUV-Statistik eingegeben – AK45! Durch Zufall kann ich mich erinnern, dass es dieses Jahr beim 1. HaWei50 (50 km Ultralauf rund um den Hardtsee in Ubstadt-Weiher) einen neuen Altersklassen-Rekord bei den Frauen AK45 von Kathrin Ochs mit 3:39:06 gegeben hat. Da war die Helle hier in Viborg schneller!
Ich verschnaufe erst mal und gehe duschen, um mich abzukühlen.
Einigermaßen erholt komme ich mit der Siegerin über die 50 km – Helle – ins Gespräch. Ja – sie ist in der dänischen Ultralauf-Nationalmannschaft. Von ihr erfahre ich viel über das Laufen hier in Viborg, den Ultralauf in Dänemark, Trainingssystem und das Dänemark auch eine Berglauf-Mannschaft hat. Zweitschnellste Dänin über die 50 km ist die Helle – das habe ich heute gemerkt! Auf meine Frage, ob sie denn dänische Meisterin wäre, erfahre ich, dass es in Dänemark keine 50 km-Meisterschaften gibt. Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Die Diskussion, ob ein 50 km schon ein Ultra ist, kenne ich. Die offiziellen Weltmeisterschaften für 50 km gibt es auch erst seit 2015.
Als ich frage, ob sie die Nele Alder-Baerens (aktuelle deutsche Rekordhalterin im 6 h, 12 h und 24 h-Lauf) kennt, bekomme ich als Antwort: Ja – von den Weltmeisterschaften 2019 in Brasow (Rumänien).
Natürlich muss ich fragen, warum doch recht wenig Starter bei den 100 km-Meisterschaften dabei sind. Soweit ich verstanden habe, fanden wohl am Wochenende vorher die DM im 24 h-Lauf in Saeby ganz im Norden von Dänemark statt. Naja – wenn man auf Leistung läuft, dann ist deutlich mehr Regeneration als eine Woche nötig.
Ich bleibe noch bis der letzte 50 km-Läufer im Ziel ist und mache mich dann an die Rückfahrt.
Was bleibt? – Ich hatte einen tollen Tag! Einen schönen, anstrengenden Lauf absolviert. Neue nette Leute und viele Geschichten kennen gelernt.
Eine Laufveranstaltung von Läufern für Läufer. Professionell organisiert und doch mit dem Charme einer familiären Veranstaltung, mit einer Strecke, die ich auch nach 8 Runden nicht langweilig fand.
Wenn sich die Möglichkeit mal wieder ergibt, bin ich sicher wieder mit von der Partie. Dann
vielleicht sogar beim 100 km-Lauf. 😉