von Gerd Matalla
Etwas Gutes hatte meine Armeezeit in Brandenburg von 1980 bis 1982. Sie brachte mich zu meinem ersten Marathon. Ansonsten glich dieser „Ehrendienst bei der NVA“ in meinen Augen eher einem Eingesperrt-sein, verlorene Lebenszeit, zusammen mit Menschen, zu denen ich zumeist keine Beziehung finden konnte. Mit 18 gehörte zu den jüngsten in der Kompanie, was auch nicht gerade vorteilhaft war. Zuvor war ich zudem zwei Jahre Freiheit in einer Abiturklasse der Universität Halle gewöhnt, weg von zuhause, quasi Studentenleben. Ab und zu war ich da auch laufen und stellte fest, dass ich das ganz gut kann und fand Spaß daran.
Mich hier an das Kasernenleben anzupassen war nicht meine Stärke und es entsprach auch nicht meiner Überzeugung mich den NVA-Verhältnissen zu ergeben.
So entschied ich mich, der umzäunten Kaserne so oft wie möglich zu entkommen. Das Laufen war dafür eine gute Möglichkeit. Das machte mich zwar in der Truppe noch unbeliebter, aber ich entschied mich dafür. Das Privileg durch Sport aus dem Gelände rauszukommen hatten sonst nur die Fußballer. Fußballer wurden in der Truppe stärker akzeptiert. Lag sicher an der Sportart, außerdem brachten sie öfter nach dem Spiel Schnaps mit in die Kaserne.
Draußen war es eine völlig andere Welt. Die Menschen, die ich dort traf, meistens Läufer, waren völlig andere Menschen. Die Natur an den Seen um Brandenburg war zudem ein großer Kontrast zu den grauen Betonflächen des Armeestandortes.
In der Bevölkerung war Anfang der Achtziger das Laufen als Breitensport noch nicht angekommen und so musste man sich manchmal unterwegs dumme Sprüche anhören. Aber das war egal – alles besser als dieser dumme, raue Armee-Ton.
Unter dem Vorwand, das Regiment zu vertreten, durfte ich hin und wieder auch an Wettkämpfen teilnehmen. Es gab noch zwei andere Soldaten, die von der Sportschule, vom Langstreckenlauf kamen. Es war nicht einfach hier mitzuhalten, aber ich hatte Motivation. Ich wollte trainieren.
Eine Kreisrangliste gab es damals auch schon. Aber wie das auch heute ist, irgendwann will man etwas Größeres probieren. Es musste ein Marathon sein! Die vielen großen Volkssportläufe kamen erst Jahre später, aber einen Marathon gab es in der Nähe: Der Lichtberg-Marathon in Berlin. Das war jetzt mein Ziel.
Ohne Laufbuch, ohne Trainingstipps aus dem Internet, ohne Funktions-Shirts, ohne Pulsuhr und GPS – das ging, tatsächlich! Gut, es hat auch Lehrgeld gekostet, wie sich dann später auf den 42 Kilometern zeigen sollte.
Aber bis dahin waren noch einige Monate Zeit. Die wollte ich entsprechend meiner Möglichkeiten nutzen. Glück hatte ich, dass zu der Zeit mit Rüdiger Nettlau einer der damals sehr guten DDR-Marathonläufer zur Reserve in Brandenburg eingezogen war. Er nahm mich öfter zum Training mit. Ich habe es bis heute in Erinnerung, wie es war, wenn man versucht dranzubleiben, aber eigentlich am Ende der Kräfte ist.
Dann die langen Ausdauerläufe im Training. Unterwegs habe ich mich manchmal bei einem Bäcker gestärkt. Einmal wurde ich vom Kompanie-Spieß erwischt, wie ich mir im Konsum ein Brötchen und einen Schmierkäse gekauft habe – mit bösen Konsequenzen. Danach wieder in der Kaserne brüllte er über den langen Flur nach mir und zerriss dann meine Trainingskarte, die mich berechtigte das Kasernen-Gelände zu verlassen. Ich erhielt zwar vom Regimentsstab eine neue, beim Spieß war ich durch. Aber ich konnte weiter trainieren. Egal was für Wetter, wann immer es ging, war ich draußen auf der Laufstrecke.
Es war noch einiges an Training erforderlich, bis zum Start am 29.11.1981.
Als Trainingstagebuch diente mir ein kleines Vokabelheft. Leider ist das bei irgendeinem Stubendurchgang mal „verloren“ gegangen. Tagebuch-Aufzeichnungen waren nicht erlaubt.
Von den vorbereitenden kleinen Wettkämpfen habe ich in Erinnerung, dass das Eincremen der Muskeln mit irgendwelchen Sportsalben damals eine große Bedeutung hatte. Einzelne hatten sogar eine Tube aus dem Westen. Außer dem Geruch war die Stimmung im Umkleidezelt wie heute, freundlich, respektvoll, sehr angenehm.
Dann war er ran der Sonntag mit dem großen Vorhaben. Ich stand noch nie zuvor an der Startlinie eines Marathons. Es waren nur ein paar Hundert Starter, trotzdem ein für damalige Verhältnisse großer Lauf in der Hauptstadt. Bekannt war der Rennsteiglauf, aber ein Stadt-Marathon war damals noch etwas Besonderes. Es stand auch mehr die Leistung im Vordergrund. Der Dabei-sein-ist-alles-Gedanke ließ erst Jahre später die großen Volksläufe entstehen.
Ich war so aufgeregt. Hatte ich genügend Trainings-Kilometer in der Vorbereitung? Aus heutiger Erfahrung würde ich sagen, die Vorbereitungszeit war zu kurz. Als 19-jähriger steckt man das aber weg. Damals war es einfach nur der Wille, das zu schaffen. Eine richtige Zielzeit hatte ich nicht, außer dass es unter 4 Stunden sein sollte.
Ich hämmerte mir ein langsam loszulaufen. Ich hatte damals im Vorfeld auf der 400-m-Bahn geübt, ein vorgegebenes Tempo ohne Blick auf die Uhr einzuhalten. Vermutlich ist mir das nach dem Start mit dem Adrenalin-Überschuss im Blut nur bedingt gelungen, zumal da einige damals DDR-bekannte Spitzenläufer in der überschaubaren Menge am Start standen, die das Rennen natürlich viel schneller angingen.
Die genaue Streckenführung weiß ich nicht mehr. Sie führte irgendwie kreuz und quer durch Ost-Berlin, vorrangig Lichtenberg. An der Strecke gab es Verpflegungsstände mit Getränken und Haferschleim in Pappbechern. Heute nicht mehr vorstellbar: Einzelne begeisterte Anwohner reichten ganz privat den Läufern Tee mit Salz.
Es lief gut. Ich wusste, dass das dicke Ende immer am Schluss kommt. Nach etwa 30 Kilometern erlaubte ich mir nach einem Blick auf meine Armbanduhr eine vorsichtige Hochrechnung auf die Zielzeit. Es sah nicht schlecht aus, etwas über 3 Stunden.
Ein Jahr zuvor hatte Waldemar Cierpinski in Moskau seinen zweiten Olympiasieg geholt, in 2:11 Stunden. Ich kannte ihn persönlich. Er stammt aus meinem Heimatort Nienburg. Da kam es mir in den Kopf nicht mehr als eine Stunde länger als er zu brauchen. 3:11 Stunden, das sollte machbar sein. Einfach nur das Tempo halten und immer weiterlaufen.
Vom Mann mit dem Hammer, der da irgendwo bei Kilometer 35 stehen soll, hatte ich schon gehört. Erlebt hatte ich ihn noch nicht. Auch wenn es kein Hammer war, es wurde zunehmend schwerer das Tempo hochzuhalten. Die Zeit verging schneller als die Kilometer und die Kilometer wurden gefühlt immer länger. Am letzten Verpflegungsstand, ließ ich mich zu einem Getränk mit Kohlensäure hinreißen. Eine schmerzliche Erfahrung, die ich bis heute beherzige. Die Kohlensäure ließ die letzten Kilometer für mich zur Qual werden. Es ging noch mehr Zeit verloren.
Aber mein Wille hat mich bis ins Ziel gebracht. 3:24 Stunden und ein Körper voller Glückshormone. Ich glaube so viel Freude habe ich erst wieder bei der Entlassung nach meinen anderthalb Jahren Armeedienst erlebt.
Gewonnen hat damals Klaus Goldammer aus Leipzig, den ich 2011 zu einen Volkslauf in Leipzig wiedergesehen habe.
Im folgenden Jahr hieß der Lichtenberg-Marathon dann Friedenslauf und wurde 1984 zum Berliner Halbmarathon. Heute gilt er als der 1. Lauf dieses größten deutschen Halbmarathon-Events.
Viele Jahre später habe ich mehrfach mit meinen Beunaer Lauffreunden daran teilgenommen. Natürlich waren das noch viel schönere Lauferlebnisse, aber die Erinnerung an mein großes Marathon-Debut Berlin 1981 bleibt.